Am 25. Mai 2020 um 10 Uhr findet im Plenarsaal des Sächsischen Landtags die Anhörung unseres Volksantrags und der vorliegenden Änderungsanträge im Ausschuss für Schule und Bildung statt. Die Anhörung ist öffentlich, doch aus Gründen des Infektionsschutzes ist die Anzahl der Besuchenden auf 30 begrenzt.

Die Stellungnahme von Doreen Taubert und Burkhard Naumann als Vertrauenspersonen des Volksantrages, die vor Ort neben weiteren Sachverständigen den Abgeordneten Rede und Antwort stehen, haben wir bereits vorab eingereicht:

Stellungnahme zum Volksantrag „Längeres gemeinsames Lernen in Sachsen“ (Drs. 7/522) und dazu vorliegenden Änderungsanträgen

von Doreen Taubert und Burkhard Naumann, Vertrauenspersonen des Volksantrages

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

die Kinder in Sachsen werden in den Schulen viel zu früh voneinander getrennt: Bereits im Alter von 10 Jahren entscheidet sich der weitere Schulweg, eingegangene Bindungen werden wieder aufgelöst – obwohl es unbestritten ist, dass die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau bestimmbar sind.

Längeres gemeinsames Lernen gibt es in Sachsen bislang nur mit einer gesetzlichen Ausnahmeregelung an zwei öffentlichen Schulen – der Nachbarschaftsschule Leipzig und dem Chemnitzer Schulmodell – sowie grundsätzlich an freien Schulen. In neun deutschen Bundesländern gehören Gemeinschaftsschulen zur Schullandschaft und haben sich bewährt. International sind längeres gemeinsames Lernen und Gemeinschaftsschulen ohnehin Standard. Weitere Gründe führen wir in Anlage 1 auf.

Der Volksantrag “Längeres gemeinsames Lernen in Sachsen” (Drs. 7/522) ändert das Sächsische Schulgesetz und das Sächsische Gesetz über Schulen in freier Trägerschaft. Dabei wird die Gemeinschaftsschule als weitere optionale Schulart gesetzlich aufgenommen, um auch in Sachsen die Möglichkeit zum längeren gemeinsamen Lernen zu schaffen. Ziel ist es, dass unsere Kinder über Klasse 4 hinaus gemeinsam lernen können und eine Entscheidung zum weiteren Schul- und Lebensweg später getroffen werden kann. Wir sind davon überzeugt, so zur Chancengleichheit beizutragen, das soziale Lernen zu fördern und die Gemeinschaft zu stärken. Der Gesetzentwurf wurde gemeinsam im Bündnis „Gemeinschaftsschule in Sachsen” erarbeitet, greift Erfahrungen aus der Schulgesetznovelle sowie des Thüringer Modells zur Gemeinschaftsschule auf. An der Erarbeitung waren u.a. Prof. Dr. Wolfgang Melzer sowie Bildungsexpert*innen und Jurist*innen verschiedener Parteien und Institutionen beteiligt. Mit der externen Normprüfung wurde Prof. Dr. Jürgen Staupe, Rechtsanwalt, Kommentator des Schulgesetzes und Staatssekretär a. D., betraut.

Verschiedene Wege können zum längeren gemeinsamen Lernen führen:

  • Es gibt eine Schule bis zur 8. Klasse, an der die Kinder gemeinsam lernen. Erst danach trennen sich die Wege in Richtung Ober-/ Realschule oder Gymnasium.
  • Man könnte auch die Grundschulzeit bis Klasse 6 für alle verlängern.
  • Man schafft Gymnasium und Ober-/ Realschule ab, wandelt sie in Gemeinschaftsschulen um und erschafft so eine Schule für alle, die von Klasse 1 bis 12 geht.

All diese Modelle stellten harte Einschnitte in die Schullandschaft und drastische Umbrüche dar. Sie wurden am Beginn im Gemeinschaftsschul-Bündnis diskutiert. Jedoch entschieden sich die Beteiligten im Bewusstsein um die gewachsene sächsische Schullandschaft sowie die individuellen Erfordernisse vor Ort dafür, die sanfteste Reform im Sinne des längeren gemeinsamen Lernens zu initiieren. Vorgeschlagen wird mithin das optionale Modell. Der Gesetzentwurf sieht keine harten Einschnitte in die Schulstruktur vor, sondern ergänzt sie behutsam: Die Gemeinschaftsschule soll eine zusätzliche Schulart werden. Und sie kann dann entstehen, wenn Eltern, Schüler*innen, Lehrkräfte sowie der Schulträger einer Umwandlung bestehender Schulen gemeinsam zustimmen. Der Volksantrag setzt also auf den Gestaltungswillen vor Ort und berücksichtigt die individuellen und örtlichen Gegebenheiten. Im Zentrum steht das pädagogische Konzept als Basis für den gemeinsamen Bildungsgang, in dem vorwiegend binnendifferenziert unterrichtet und zugleich abschlussbezogenes Lernen sichergestellt wird. An einer sächsischen Gemeinschaftsschule soll jeder junge Mensch entsprechend seinen Befähigungen einen Abschluss erwerben können, also einen Hauptschulabschluss, einen Realschulabschluss oder das Abitur, und die Chance haben, zu zeigen, was in ihm steckt.

Die Kernbestandteile unseres optionalen Modells sind:

  • Die Gemeinschaftsschule wird rechtlich verbindlich als neue Schulart im Schulgesetz verankert, es besteht aber kein Zwang zur Einführung vor Ort.
  • Wir lassen verschiedene Modelle zu, um die lokalen Bildungserfordernisse zu berücksichtigen. Generell umfasst die Gemeinschaftsschule die Klassen 1 bis 12. Es ist aber auch denkbar, dass sie nur die Klassen 1 bis 10 umfasst und dann mit einem Gymnasium kooperiert. Oder aber sie setzt erst ab Klasse 5 an und kooperiert mit Grundschulen. Welches Modell das richtige ist, sollen die Expert*innen vor Ort gemeinsam entscheiden – also Lehrkräfte, Eltern, Schüler*innen und Schulträger.

Der Volksantrag denkt den Kompromiss bereits mit. Er stellt sicher, dass Bewährtes fortgesetzt werden kann. Er ermöglicht aber auch neue Wege. Er wird keine Schulart bevorzugen oder benachteiligen. Und er kann Impuls für die schulische Qualitätsentwicklung sein. Wir sind davon überzeugt, dass er einen Schulfrieden herstellen kann.

Die Änderungen des Volksantrages am Sächsischen Schulgesetz im Detail:

  • §7a: Definition der Gemeinschaftsschule = Kernstück des Volksantrages
    • Klasse 1 bis 12 
    • alle Schulabschlüsse können erworben werden
    • gemeinsamer Bildungsgang mit binnendifferenziertem Unterricht, ab Klasse 9 kann abschlussbezogen unterrichtet werden
    • jahrgangsübergreifender Unterricht wird ermöglicht
    • Angebot von Schulsozialarbeit
    • zwei Wege zur Einrichtung:
      • Neugründung durch den Schulträger
      • Schulartänderung im Einvernehmen zwischen Schulträger und Schule (Eltern, Lehrer, Schüler)
    • Schulprogramm ist wesentliches Element, um Methoden und gemeinsames Lernen zu beschreiben sowie Entwicklungsprozess zur Gemeinschaftsschule darzulegen
    • Orientierung an Lehrplänen
    • Abweichung von der Stundentafel möglich, um gemeinsames Lernen zu befördern
    • Übernahme von bestehenden Regelungen anderer Schularten bspw. Berufs- und Studienorientierung, Profil- und Wahlbereich
  • §4a: Mindestschülerzahl und Zügigkeit
    • mindestens zweizügig
    • Klassengröße = 20, dies auch in der Primarstufe, um Mindestschüler-Zahlen in höheren Klassen erreichen zu können
  • §4b: außerhalb der sechs Oberzentren kann Gemeinschaftsschule einzügig sein
  • §4c: Gemeinschaftsschule ist inklusiv
  • §16/ §16a: Betreuungsangebote/Ganztagsangebote an Gemeinschaftsschulen
  • §23a: Schulnetzplanung (Erfassung von Primarschüler*innen)
  • §25: kein fester Schulbezirk für Primarschüler*innen der Gemeinschaftsschule (vergleichbar mit Schulen in freier Trägerschaft)
  • §28: Neufassung der Vollzeitschulpflicht, da Gemeinschaftsschule sowohl Primarstufe als auch weiterführende Stufen (Sekundarstufe I und II) umfasst
  • §34: Bildungsempfehlung
    • wird für bestehende Schularten nicht geändert
    • beim Übergang von Gemeinschaftsschule an andere Schularten (beispielsweise ans Gymnasium) gelten die gleichen Regeln fort
    • beim Übergang in die Sekundarstufe II (Abitur-Oberstufe) kommen die gleichen Zugangskriterien zur Anwendung
    • innerhalb und beim Wechsel auf die Gemeinschaftsschule wird keine Bildungsempfehlung benötigt
    • beim Verlassen der Gemeinschaftsschule beispielsweise durch Umzug o. Ä. kann es in Ausnahmefällen und auf Antrag der Eltern eine Bildungsempfehlung geben
    • bei Kooperationsmodellen müssen Kooperationsvereinbarungen Beachtung finden, wichtig für Schulplätze und Präferenz des Zugangs
  • §43: Schulkonferenz: Heraushebung der Beschlüsse zu Änderungen der Schulart zur Gemeinschaftsschule inkl. Schulprogramm
  • §62: zusätzliche Förderbedarfe beim Hauptschulabschluss analog zu Oberschule/ Förderschule
  • §63: Vertreter*innen der Gemeinschaftsschule von Anbeginn im Landesbildungsrat
  • §64: Übergangsbestimmung: 
    • Pilotphase Inklusion 
    • Teilschulnetzpläne 
    • Zugang zur Sekundarstufe II in der Aufbauphase

Die Änderungen des Volksantrages am Gesetz über die Schulen in freier Trägerschaft im Detail:

  • allgemeine Bemerkung: Gleichbehandlung auf Grund der Verfassung, daher hier ebenso berücksichtigt
  • §4: neuer Tatbestand für gleichgestellten genehmigungspflichtigen Einrichtungstatbestand = Änderung der Schulart zur Gemeinschaftsschule
  • §13: neuer Tatbestand aus §4 wird bei den Wartefristen ausgenommen, d. h. sofortige 100%-Finanzierung bei Schulartwechsel zur Gemeinschaftsschule
  • §14: Definition von Faktoren für Gemeinschaftsschule, die schuljährlich angepasst werden, um diese Schulart auch hier grundständig einzuführen

Stellungnahme zu den vorliegenden Änderungsanträgen:

Allgemeine Bemerkung: Der Volksantrag stellt mit dem optionalen Modell bereits einen Kompromiss dar. Daher ist er die beste Möglichkeit, behutsam auf die Erfordernisse vor Ort zu reagieren. Beide Änderungsanträge schränken die Optionen derart stark ein, dass der Wille der 50.120 Unterzeichnerinnen und Unterzeichner nicht mehr abgebildet wird. Ein Gesetzentwurf, den der Landtag mit diesen Änderungen beschließt, wäre ein anderer als der Volksantrag.

Zum Änderungsantrag der Fraktionen CDU, Bündnis 90/Die Grünen und SPD:

  • Die Gründung von Gemeinschaftsschulen soll nicht auf niedrigschwellige und unbürokratische Weise überall dort, wo alle Beteiligten dies wollen, ermöglicht werden, wie es der Volksantrag anstrebt. Vielmehr wird sie mit Hürden versehen, die eine vor Ort gewollte Schulgründung deutlich erschweren oder teilweise unmöglich machen.
  • Diese Hürden entstehen durch erhöhte Anforderungen an die Mindestzügigkeit sowie durch Vorgaben, in welchen Kommunen Gemeinschaftsschulen als „Oberschule+“ entstehen dürfen. Längeres gemeinsames Lernen bekäme dann nicht flächendeckend eine Chance.
  • Im Vergleich zur „Technischen Oberschule“ der AfD-Fraktion wird längeres gemeinsames Lernen an der „Oberschule+“ systemimmanenter realisiert.
  • Bei der Berechnung der Faktoren für freie Schulen hat der Volksantrag folgendes Modell zugrunde gelegt: GMS = [4*GS + 6*(0,5 OS + 0,5 GYM) + 2*GYM]/12
    > Die Neuberechnung müsste entsprechend korrigiert werden, da der Aufwand in der Sekundarstufe I bereits ein anderer ist.

Zum Änderungsantrag der AfD-Fraktion:

  • Es erfolgt offenbar nur ein „Copy and Paste” in Hinblick auf die Bezeichnung „Gemeinschaftsschule“ vs. „Technische Oberschule“.
  • Der Unterschied zwischen der avisierten Technischen Oberschule und einer regulären Oberschule ist kaum erkennbar.
  • Der Volksantrag wird konterkariert, etwa durch die geforderte Äußere Differenzierung, strenge Regularien zu jahrgangsübergreifendem Unterricht und den Wegfall des binnendifferenzierten Unterrichts.
  • Es erfolgt keine stringente Änderung des Modells, da Bildungsempfehlung fürs Gymnasium dem Antrag zufolge nach Klasse 8 eine 1,5 vorsieht, hingegen nach Klasse 4 eine 2,0 benötigt wird.
  • Längeres gemeinsames Lernen bis Klasse 8 mit äußerer Differenzierung greift nur einen Teilaspekt auf (wie oben bei den verschiedenen Modellen dargelegt) und vernachlässigt eine Vorbereitung auf gymnasialem Niveau.
  • Die geforderten Änderungen wären ein Rückschritt im Vergleich zum erweiterten pädagogischen Konzept für Oberschulen.

Anlage 1: Gute Gründe für Längeres gemeinsames Lernen

Weniger Schulstress

Die frühe Entscheidung über die weitere Schullaufbahn ist nicht objektiv, verstärkt den Schulstress und belastet Kinder, Eltern und Lehrende sozial und psychisch. 

Elternwillen umsetzen

Mehr als zwei Drittel der Eltern schulpflichtiger Kinder plädieren bundesweit für Längeres gemeinsames Lernen über die vierte Klasse hinaus (JAKO-O Elternstudie von Killus/Tillmann 2017). 60 Prozent sind der Ansicht, dass der gemeinsame Unterricht den verschiedenen Lernvoraussetzungen besser Rechnung tragen kann.

Auch die Mehrheit der Sachsen ist dafür

In einer repräsentativen Befragung des EMNID-Instituts (2017) haben die Sachsen ein klares Bekenntnis zu einem Längeren gemeinsamen Lernen in der Schule abgelegt. Knapp zwei Drittel lehnten die bislang übliche Aufteilung der Kinder nach der vierten Klasse ab. 66 Prozent sprachen sich für die Einführung einer Gemeinschaftsschule aus. Die Befürwortung ist bei unter 30-Jährigen besonders hoch. Weitere Befragungen, wie die der Sächsischen Zeitung, kommen zu ähnlichen Ergebnissen. So stimmten 72 Prozent der Befragten für ein längeres gemeinsames Lernen in Gemeinschaftsschulen in Sachsen (Quelle: https://www.saechsische.de/idee-der-gemeinschaftsschule-verwaessert-5148134.html).

Schulschließungen vermeiden

Gemeinschaftsschulen sind geeignet, unterschiedlichen regionalen Bedingungen gerecht zu werden und auch für den Schulerhalt im ländlichen Raum zu sorgen. 

Chancengleichheit durch bessere Förderung

Gemeinschaftsschulen bieten mit einem durchlässigen und individualisierten Lernangebot allen Schülerinnen und Schülern bessere Entwicklungschancen. Bei der aktuellen Sonderauswertung von PISA (2018) zeigte sich, dass eine gute soziale Mischung der Schülerschaft ein Erfolgsfaktor ist, um alle Kinder zu guten Leistungen zu bringen. Längeres gemeinsames Lernen vergrößert den Lernerfolg in der Breite und in der Spitze.

Gemeinsam lernt es sich besser

Das zeigen neben den internationalen Schulleistungsstudien auch die Begleitforschungen der Gemeinschaftsschulen in Deutschland. Sowohl leistungsschwache als auch leistungsstarke Schüler werden gefördert, wie die Evaluation der Gemeinschaftsschulen in Berlin ergab. Bei einem sächsischen Schulversuch gehörten die Gemeinschaftsschulen in Leipzig und Chemnitz zur Spitzengruppe.

Fazit: Das optionale Modell ist der sinnvollste Schritt zum längeren gemeinsamen Lernen

Es gäbe verschiedene Wege, längeres gemeinsames Lernen zu erreichen. Der radikalste Weg ist die (gegebenenfalls schrittweise) Ersetzung der Regelschularten durch die Gemeinschaftsschule. Viele Bürgerinnen und Bürger fürchten jedoch verständlicherweise starke Reibungsverluste oder wollen ihre Kinder aus verschiedenen Gründen an einer Grundschule, Oberschule oder am Gymnasium belassen.