Argumente zu Behauptungen gegen Längeres gemeinsames Lernen und zur optionalen Einführung von Gemeinschaftsschulen in Sachsen

von Doreen Taubert, Burkhard Naumann und Mitgliedern der AG Inhalte

Einleitung
Bei der öffentlichen Anhörung im Schulausschuss des Sächsischen Landtages am 25. Mai 2020 wurden Stellungnahmen von Sachverständigen zum Volksantrag „Längeres gemeinsames Lernen in Sachsen“ (Gesetz zur Einführung der Gemeinschaftsschule im Freistaat Sachsen) sowie zu den beiden Änderungsanträgen der Regierungskoalition (CDU, GRÜNE, SPD) einerseits und der AfD andererseits vorgetragen. Neben den beiden Vertrauenspersonen des Volkantrages, die das optionale Modell erneut vorstellten, kamen 14 Sachverständige zu Wort, wobei ein Großteil der Sachverständigen aufgrund der jeweiligen Fraktionsstärken von CDU und AfD benannt wurden. Von den drei Parteien, die den Volksantrag mit auf den Weg gebracht haben, konnten lediglich vier Sachverständige ihre Position vortragen.

Aus wissenschaftlicher Sicht waren einige Stellungnahmen mehr als irritierend, teilweise waren sie von Unkenntnis der (sächsischen) Verhältnisse und Vorurteilen geprägt. Von Wissenschaftlern hätte man erwarten können, dass sie den bundesweiten Forschungsstand vortragen und evaluieren. Stattdessen wurde u. a. über negative Erfahrungen mit den großen Gesamtschulen in NRW berichtet, zu denen der Volksantrag geradezu als Gegenstück formuliert wurde. Oder: die Ergebnisse einer kleinen Studie aus Baden-Württemberg wurden von dem Autor nicht in die Gesamtbilanz der Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung von Gemeinschaftsschulen in Deutschland eingeordnet, wie man das unter dem Gesichtspunkt der Objektivität hätte erwarten müssen. Auch auf die positiven Erfahrungen mit einem jahrelangen Modellversuch zu den „Schulen mit besonderem pädagogischem Profil/Gemeinschaftsschulen“ in Sachsen wurde nicht eingegangen.

Daher melden sich die Wissenschaftler und Pädagogen der „AG Inhalte“ des Bündnisses „Gemeinschaftsschule in Sachsen“ und die beiden Vertrauenspersonen des Volksantrags noch einmal zu Wort. Wir haben einige der aufgestellten Behauptungen aufgegriffen und setzen uns damit im Folgenden argumentativ auseinander.

BEHAUPTUNG 1: „Sachsen besitzt bereits ein leistungsfähiges Bildungssystem und braucht keine neue Schulform.“
Sachsen hält bisher am gegliederten Schulsystem fest und gehört zu den Bundesländern mit dem höchsten Unterrichtsausfall, mit einer hohen Quote von elternfinanzierter Nachhilfe und Schulabgängern ohne Abschluss sowie mit weiten Schulwegen, insbesondere in ländlichen Regionen. Tatsächlich steht aber das sächsische Bildungssystem im „Bildungsmonitor“ immer wieder an der Spitze. Das hat vor allem etwas mit der Anlage dieser Studie zu tun und sollte durchaus hinterfragt werden.

Durchgeführt wird diese Studie vom „Institut der deutschen Wirtschaft Köln“ (IW) im Auftrag der Initiative neue Marktwirtschaft (INSM). Diese wird finanziert aus Mitteln der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie und positioniert sich programmatisch z.B. gegen Mindestlohn, hält die Vermögenssteuer „für nicht zeitgemäß, ökonomisch unvernünftig und sozial ungerecht“ und spricht sich gegen eine Aufweichung der Agenda 2010 aus (s. Website der INSM).

Bei der Schulqualität gibt es in dieser Studie einen sehr eingeschränkten Blick. Während in den wissenschaftlichen Debatten um Schulqualität die Bedeutung der schulischen Lernumwelt (z.B. Unterrichtsqualität, Schulklima) als Erfolgsfaktor eine gesicherte Erkenntnis ist, beschränkt sich der Bildungsmonitor auf die Wiedergabe ausgewählter Ergebnisse der obligatorischen zentralen Kompetenztests. So beziehen sich die Ergebnisse zur Unterrichtsqualität im letzten Bildungsmonitor von 2019 lediglich auf die Überprüfung im Lesen 9. Klasse von 2015, in Mathematik 4. Klasse von 2016 und im Lesen 4. Klasse von 2016. Diese wenigen und nicht mehr aktuellen Leistungsparameter sind nicht geeignet, ein aussagefähiges Bild über die Leistungsfähigkeit der sächsischen Schulen in den Abschlussklassen abzugeben. Zudem muss festgestellt werden, dass nur bei der Lesekompetenz der Neuntklässler der 1. Platz erreicht wurde. In den beiden anderen Indikatoren liegen die Viertklässler in Mathematik und beim Lesen auf dem 2. Platz. Bei der Schulabbrecherquote liegt Sachsen mit 8,2 Prozent nur auf dem 11. Platz.

Allerdings zielt längeres gemeinsames Lernen nicht in erster Line auf höhere Spitzenleistungen. Die höhere Leistungsfähigkeit der Gemeinschaftsschule im Vergleich zum gegliederten Schulsystem ergibt sich vor allem durch den höheren Bildungszuwachs bei Kindern im unteren und mittleren Leistungssegment, die bisher an den sächsischen Oberschulen in Hauptschul- und Realschulklassen unter sich bleiben und nicht gemeinsam mit Kindern auf gymnasialen Niveau lernen.

BEHAUPTUNG 2: „Ein gegliedertes Bildungssystem ist ausreichend durchlässig und effektiver. Eine leistungsfähige Schule gelingt nur über äußere Differenzierung.“
Das ist eine unbewiesene Behauptung, die zumindest durch die internationale Schulentwicklung in Frage gestellt werden muss. International sind längeres gemeinsames Lernen und Gemeinschafts­schulen ohne äußere Fachleistungsdifferenzierung Standard. In neun deutschen Bundesländern gehören Gemeinschaftsschulen zur Schullandschaft und haben sich bereits bewährt. Die Grundstruktur des deutschen Bildungssystems stammt aus der Weimarer Republik und ist schon lange nicht mehr zeitgemäß. Siehe auch nächster Punkt.
BEHAUPTUNG 3: „Es gibt nichts Besseres als das gegliederte Schulsystem. Deshalb muss die Bildungsempfehlung bleiben.“
Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Belege dafür, dass die frühe Entscheidung über die weitere Schullaufbahn am Beginn der 4. Klasse und die damit verbundene Bildungsempfehlung nicht objektiv sein können, den Schulstress verstärken und Kinder, Eltern und Lehrende sozial und psychisch belasten. Obwohl in Sachsen letztlich der Elternwille über den weiteren Schulweg entscheidet, stehen die Kinder, die ohne gymnasiale Empfehlung zum Gymnasium wechseln, unter besonderer Beobachtung bzw. Überprüfung und unter der Gefahr in die Oberschule zurückgestuft zu werden und damit einen sozialen Abstieg zu erleben. Wie in anderen Bundesländern gibt es auch in Sachsen den deutlichen Trend, dass Schüler*innen eher vom Gymnasium abgehen als anders herum, schwierige Kinder werden häufig „abgeschult“ und der Oberschule oder Förderschule überlassen. Damit wird die Verantwortung für gelingende Lernprozesse „nach unten“ abgegeben.
BEHAUPTUNG 4: „Es gibt keine klaren empirisch nachgewiesenen Vorteile des längeren gemeinsamen Lernens.“
Das stimmt nicht. Anerkannte empirische Befunde der Wissenschaftlichen Begleitung des Berliner Schulversuchs „Gemeinschaftsschule“ von 2008 – 2016 belegen, dass längeres gemeinsames Lernen in heterogenen Schülergruppen an inklusiven Schulen unter Verzicht auf äußere Leistungsdifferenzierung gelingen kann: Lernen in den Berliner Gemeinschaftsschulen hat zu höheren Lernfortschritten in den drei sprachlichen Kompetenzbereichen (Leseverständnis, Orthografie und Englisch) geführt als das Lernen in den Hamburger Vergleichsschulen des gegliederten Systems, nach eingeleiteten Maßnahmen zur Weiterentwicklung des Mathematikunterrichts auch in Mathematik und in den Naturwissenschaften. Die Fördererfolge deuten darauf hin, dass der vielfach beklagten engen Kopplung von sozialer Lage und Schulerfolg im deutschen Schulsystem mit dem längeren gemeinsamen Lernen wirksam gegengesteuert werden kann. Die Leistungsschere zwischen den Schülerinnen und Schülern aus der Belastungsindexgruppe mit den ungünstigsten Lernvoraussetzungen und den Schülerinnen und Schülern aus der Belastungsgruppe mit den günstigsten Lernvoraussetzungen hat sich dabei merklich geschlossen, ohne dass Schüler*innen, die auf gymnasialen Niveau lernten, in ihrer Leistungsentwicklung behindert wurden. Gemeinsames Lernen sorgt somit dafür, dass „gute“ Lerner nicht schlechter werden und „schwächere“ Lerner von deren Anregungspotenzial profitieren. (Siehe: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft, Berlin (Hrsg.): Wissenschaftliche Begleitung der Pilotphase Gemeinschaftsschule – Abschlussbericht. Berlin 2016).

Auch internationale Schulleistungsstudien bestätigen: Gemeinsam lernt es sich besser. Wenn mit der Heterogenität und Vielfalt der Lernenden produktiv umgegangen wird, werden sowohl leistungsschwache als auch leistungsstarke Schüler gefördert. Bei einem sächsischen Schulversuch gehörten die Gemeinschaftsschulen in Leipzig und Chemnitz zur Spitzengruppe.

Die Mehrheit der mit dem „Deutschen Schulpreis“ ausgezeichneten Schulen sind Schulen des gemeinsamen längeren Lernens. Zuvor werden die Bewerber um diesen Preis über längere Zeit von mehreren Wissenschaftler*innen besucht, geprüft und begleitet, so dass es keine Zweifel an der Lernqualität und den Leistungen der Schüler*innen an diesen Schulen gibt.

BEHAUPTUNG 5: „Die Lernmethoden des gemeinsamen Lernens (selbstorganisiertes, individualisiertes, jahrgangsübergreifendes Lernen) sind gescheitert.“
Auch diese Behauptung stimmt nicht. Eher das Gegenteil ist empirisch bestätigt, weil diese Lernmethoden besonders gut geeignet sind, die Heterogenität der Lernenden als Chance für eine effektivere individuelle Leistungsentwicklung sowie für leistungsstimulierende kooperative Lernprozesse zu nutzen. Außerdem können in solchen Lernsettings kritisches Denken, kommunikative Kompetenzen, kooperative Fähigkeiten und Kreativität deutlich besser ausgebildet werden. Es geht nicht nur um fachliches Lernen. Zahlreiche empirische Belege zeigen allerdings, dass eine veränderte Lernkultur, die auf selbstorganisiertes, individualisiertes oder auch jahrgangsübergreifendes Lernen nur dann erfolgreich sein kann, wenn eine systematische Befähigung der Lernenden zur selbstständigen Anwendung dieser Lernmethoden sowie eine vielfältige Steuerung und Kontrolle der Lernwege und -ergebnisse durch die Lehrer*innen realisiert wird. Selbstorganisation des Lernens heißt nicht, dass den Schüler*innen Lernaufgaben gestellt und sie sich dann selbst überlassen werden. Auch hier kann auf die mit dem „Deutschen Schulpreis“ ausgezeichneten Schulen verwiesen werden, die erfolgreich diese Lernformen praktizieren. Außerdem sei festgestellt: Gemeinschaftsschulen sind – wie alle anderen öffentlichen Schulen – an festgelegte bundesweite Bildungsstandards sowie die sächsischen Lehrpläne und Stundentafeln gebunden. Das Bildungsniveau aller Schülerinnen und Schüler wird beispielsweise durch verbindliche Kompetenztests überprüft und gesichert – das gilt auch für Gemeinschaftsschulen. In ihrem Schulprogramm sollen Gemeinschaftsschulen Maßnahmen zum Umgang mit der Heterogenität der Schülerschaft und der Individuellen Förderung festgelegen. Dabei kann auf bewährte Konzepte und pädagogische Erfahrungen an Modellschulen ebenso zurückgegriffen werden wie auf Erkenntnisse aus der Evaluation der bestehenden Gemeinschaftsschulen in Deutschland. Zahlreiche aktuelle Konzepte beinhalten Formen selbstorganisierten Lernens.
BEHAUPTUNG 6: „Das Konzept der inneren Differenzierung im Unterricht ist gescheitert, weil selbstorganisiertes und individualisiertes Lernen nicht funktionieren und der Schüler dabei zum Autodidakt werden muss.“ „Binnendifferenzierung ist Binnendiskriminierung“. „Binnendifferenzierungen sind die Knechte der Homogenisierung“.
Mit diesem untauglichen Argument wird einfach eine jahrelang gängige Unterrichtpraxis in ihr Gegenteil verkehrt. Es waren gerade der lehrerzentrierte Unterricht und die äußere Fachleistungsdifferenzierung und nicht die Binnendifferenzierung, die dem Bemühen vieler Lehrer*innen dienten, eine größere Leistungshomogenität ihrer Schüler*innen zu erreichen, um damit etwas mehr „Gleichschritt“ beim Lernen und eine einheitlichere Lernsteuerung zu erreichen. Es ist hinlänglich bekannt, dass leistungshomogene Lerngruppen eine Fiktion sind. Selbst die Schüler*innen in selbstgewählten Leistungskursen zeigen Leistungsunterschiede, die etwa drei Jahrgangsstufen entsprechen. Was spricht dagegen, die Heterogenität der Lernenden als Chance für die vielfältige Gestaltung unterschiedlicher Lernprozesse zu nutzen, zumal Lernen letztlich ein individueller Prozess bleibt. Zugleich kann diese Heterogenität beim gemeinsamen Lernen für individuelle Unterstützung und Lernmotivation sorgen, was hinlänglich als soziales Lernen bekannt und akzeptiert ist. Damit ist die gesamte Lernkultur angesprochen und nicht nur die Binnendifferenzierung, die oft lediglich auf die Maßnahmen zum Umgang mit Heterogenität innerhalb einer Gruppe fokussiert. Organisatorische Maßnahmen sind per se nicht lernförderlich. Es sind die sog. „Tiefenstrukturen“ des Unterrichts, also die Interaktionsqualität im Unterricht, die einen fundamentalen Einfluss auf die Lernqualität haben, darunter werden insbesondere eine hohe kognitive Aktivierung, das Classroom-Management und Lernunterstützung gefasst.
BEHAUPTUNG 7: „Facharbeitermangel und freie Ausbildungsplätze signalisieren, dass sich zu viele Eltern und Kinder für den gymnasialen Bildungsabschluss entscheiden. Deshalb sollten der Haupt- und Realschulabschluss aufgewertet werden und die Oberschulen gefördert werden, damit die Kinder gut auf das Berufsleben vorbereitet werden.“
Durch die frühe Entscheidung über den weiteren Bildungsweg in Verbindung mit der Bildungsempfehlung in der 4. Klasse sehen sich viele Eltern veranlasst, den gymnasialen Weg zu favorisieren und damit ihrem Kind die größtmöglichen Chancen für ihre Berufswahl einzuräumen. Damit hat sich bundesweit tatsächlich eine Bevorzugung des gymnasialen Bildungsabschlusses ergeben. Beim längeren gemeinsamen Lernen kann auf eine Bildungsempfehlung verzichtet werden, weil die Gemeinschaftsschule alle allgemeinen Bildungsabschlüsse ermöglicht. Je nach Leistungsmöglichkeiten und Bildungsabsichten sind dies: der Hauptschulabschluss, der qualifizierende Hauptschulabschluss, der Realschulabschluss oder die allgemeine Hochschulreife. Die damit verbundene Entscheidung, welcher Abschluss angestrebt wird, kann später erfolgen, etwa in der 8. oder 9. Klasse. Das schafft zahlreiche Möglichkeiten für eine bewusstere Berufswahl und für eine konkretere Berufsorientierung. Zudem entspricht längeres gemeinsames Lernen besser den Anforderungen der „Wissensgesellschaft“ (Stichwort: Digitalisierung), weil es vielfältigere und intensivere Möglichkeiten bietet mit „Wissen“ umzugehen, was bereits jetzt für Ausbildungsberufe außerordentlich relevant ist. Somit spricht dieses Argument nachdrücklich für Gemeinschaftsschulen.
BEHAUPTUNG 8: „Aktuelle Probleme wie Lehrermangel, Seiteneinsteiger und überforderte Lehrer*innen signalisieren, dass der ‚Methodenzirkus‘ beim längeren gemeinsamen Lernen zu weiteren Überforderungen führt.“
„Methodenzirkus“ diskriminiert die zahlreichen und auch mehrfach öffentlich gewürdigten Bemühungen vieler Lehrer*innen in allen Schulformen, mit unterschiedlichen und vielfältigen Lernmethoden den heterogenen Lernvoraussetzungen und der differenzierten Leistungsentwicklung der Lernenden Rechnung zu tragen. Das gelingt allerdings nur, wenn die Methodenvielfalt tatsächlich der Heterogenität der individuellen Lernentwicklung entspricht und die Verantwortung für die methodische Gestaltung der Lernprozesse in den Händen der Lehrer*innen verbleibt. Die dabei erreichten Lernerfolge bestätigen, dass es sich lohnt, über die Vielfalt von Lernmethoden nachzudenken und die Unterrichts- bzw. Lernqualität zu verändern. Der damit mitunter verbundene Mehraufwand kann über die kooperative Zusammenarbeit und den Erfahrungsaustausch von Lehrer*innen und Schulen reduziert werden. Dass Seiteneinsteiger hierbei besondere Unterstützung benötigen und hierzu Lehrer*innen systematisch fortgebildet werden müssen ist evident. Die in der Behauptung 8 postulierte Überforderungssituation gilt für alle Schulformen und spricht nicht dagegen, Unterricht/Schule/Lernkultur durch längeres gemeinsames Lernen weiter zu entwickeln.
BEHAUPTUNG 9: „Das Sozialprinzip darf nicht über das Leistungsprinzip gestellt werden.“
Das auf Auslese beruhende traditionelle Schulsystem in Deutschland unterstützt die soziale Spaltung unserer Gesellschaft und trägt dazu bei, dass die bestehende soziale Ungleichheit verfestigt und sogar verstärkt wird. Diese Chancenungleichheit drückt sich bspw. darin aus, dass Kinder aus sog. Akademikerfamilien eine mehrfach höhere Chance haben das Abitur zu erreichen als Kinder aus sog. Arbeiterfamilien. Gemeinschaftsschule kann durch das längere gemeinsame Lernen dazu beitragen, dass sich die Chancen, einen höheren Schulabschluss zu erwerben und damit ein Hochschulstudium beginnen zu können, auch für Nicht-Akademikerkinder erhöhen. Auf diese Weise kann längeres gemeinsames Lernen die soziale Spaltung unserer Gesellschaft verhindern helfen. Nur wenn junge Menschen die Schulzeit gemeinsam durchleben und miteinander lernen, werden sie auch später verständnisvoll und achtsam miteinander kommunizieren können, auch wenn sich ihre Lebensentwürfe und Entwicklungsansprüche voneinander entfernen. Insofern ist es falsch in der Bildung das Leistungsprinzip über das Sozialprinzip zu stellen oder umgekehrt. Sie müssen beide in ihrer Wechselwirkung grundsätzlich Beachtung finden.
BEHAUPTUNG 10: „Gemeinschaftsschulen gefährden bestehende Schulstandorte, bedrohen etablierte Schulen.“
Regionalplaner sagen: „Stirbt die Schule, stirbt der ganze Ort“. In Sachsen wurden seit dem Jahre 1990 bis zum Schuljahr 2016/17 ca. 1.500 Schulen durch Mitwir­kungs­entzug des Kultusministeriums und größten Teils gegen den Willen der Bevölkerung und des zuständigen Schulträgers geschlossen. Die Auseinandersetzungen waren konflikthaft und wurden teilweise gerichtlich ausgetragen. Ein wichtiges Ergebnis war, dass das Recht der Schulträger zur Schulnetzplanung gegenüber der Ministerialbürokratie gestärkt worden ist. Hätte seinerzeit schon die Möglichkeit bestanden, bestehende Schularten, die wegen der zurückgehenden Schülerzahlen vom Bestand bedroht waren, in einer Gemeinschaftsschule zusammenzufassen, hätten viele Schulstandorte erhalten werden können. Die Möglichkeit der Standortabsicherung besteht nach wie vor. Die Gemeinschaftsschule kann ein breites Bildungsangebot auch in ländlichen Gebieten sicherstellen. Durch die Möglichkeit der Kooperation von Grundschulen und Gymnasien mit Gemeinschaftsschulen oder durch das Zusammenführen mehrerer Schularten in einer Gemeinschaftsschule kann dazu beitragen werden, Schulschließungen zu verhindern und das Bildungsangebot speziell im ländlichen Raum aufrecht zu erhalten. Dazu muss allerdings die Forderung nach einer Vierzügigkeit von Gemeinschaftsschulen fallen.
BEHAUPTUNG 11: „Die Gemeinschaftsschule wird nicht billiger als die Schulen des gegliederten Systems.“
Der Volksantrag will den Heranwachsenden einen erweiterten Zugang zu einer zukunftsfähigen und hochwertigen Bildung durch längeres gemeinsames Lernen ermöglichen. Mit Blick auf die gewachsenen und veränderten Bildungsanforderungen in allen Bereichen unserer Gesellschaft kann es nicht um Einsparungen im Bildungssektor gehen. Das widerspräche auch der gesamtdeutschen Bildungs- und Wirtschaftspolitik. In keiner Begründung zur Notwendigkeit der Gemeinschaftsschule wird versprochen, dass diese Schulform finanziell günstiger wird als die Schulen des gegliederten Systems. Allerdings kann die Forderung der sächsischen Regierungskoalition nach Vierzügigkeit von Gemeinschaftsschulen dazu führen, dass ihre Einrichtung zu höheren finanziellen Aufwendungen führt. Der Volksantrag geht bei der Finanzierung von Gemeinschaftsschulen von einer Gleichbehandlung wie die bisherigen Schulformen aus.
BEHAUPTUNG 12: „Abschlussbezogenes Lernen ab Klasse 7 ist zu spät.“
Dieses Argument wurde bereits seit 1969 immer wieder angeführt, wenn es um die Organisation des Lernens in den Gesamtschulen ging. Der Deutsche Bildungsrat der BRD hatte diese Schulform ins Leben gerufen, um mit ihr eine Alternative für das traditionelle dreigliedrige Schulsystem zu entwickeln. Wie diese Bemühungen ausgegangen sind, ist hinlänglich bekannt:

Die Forderung nach abschlussbezogenem Lernen ab Klasse 7 führte zur äußeren Fachleistungsdifferenzierung in der Mehrheit der Unterrichtsfächer (Unterricht in verschiedenen Leistungsgruppen, mindestens drei) und zu großen Gesamtschulen bzw. umfangreichen Jahrgangsstufen, damit es genügend Schüler*innen in den verschiedenen Leistungsgruppen gab. Um die Entscheidung, wer in welcher Leistungsgruppe lernen soll, einigermaßen begründet fällen zu können, wurden dann bereits in den 5. und 6. Klassen unterschiedliche Leistungsgruppen (mindestens zwei) gebildet bzw. die Orientierungsstufen an Gesamtschulen ins Leben gerufen. In zahlreichen Bundesländern versuchte man, dieser mitunter unübersichtlichen und auch schwer zu gestaltenden äußeren Leistungsdifferenzierung aus dem Weg zu gehen und gestaltete Haupt-, Real- und Gymnasialschulzweige in einem Schulgebäude. Damit gab es zwei Formen von Gesamtschulen, die integrierte und die kooperative (additive) Gesamtschule. Eine Ablösung des bisherigen dreigliedrigen Schulsystems erübrigte sich. Gemeinsam lernten die Schüler*innen an diesen Schulen nur punktuell.

Der Volksantrag favorisiert das optionale Modell einer Gemeinschaftsschule und will auf keinen Fall das bisherige dreigliedrige Schulsystem ersetzen oder abschaffen. Er will allerdings auch nicht nur die organisatorische Struktur des sächsischen Schulwesens verändern. Mit der Gemeinschaftsschule sind vor allem pädagogische Konsequenzen verbunden. In erster Linie geht es um eine veränderte Lernkultur und die dazu erforderliche Unterrichtsqualität, die ein erfolgreiches längeres gemeinsames Lernen braucht. Wenn allerdings bis zum Ende der 8. Klasse nicht auf eine äußere Leistungsdifferenzierung in den Gemeinschaftsschulen verzichtet wird, entstehen die gleichen Probleme wie an den Gesamtschulen in den alten Bundesländern und längeres gemeinsames Lernen kann nicht stattfinden. Das steht im deutlichen Widerspruch zu den Bemühungen zahlreicher Bundesländer, bisherige Gesamtschulen in Gemeinschaftsschulen umzuwandeln und längeres gemeinsames Lernen zu ermöglichen, weil sie sich davon eine verbesserte Lernqualität und Leistungsentwicklung ihrer Schüler*innen versprechen. Diesen Trend sollte auch Sachsen erkennen und beherzigen.

BEHAUPTUNG 13: „Gemeinsames Lernen erreicht nicht die notwendige Qualität von Fachlichkeit.“
Was kennzeichnet eigentlich die notwendige Qualität von Fachlichkeit? Sicher gibt es dazu in der Lehrerschaft unterschiedliche Auffassungen und Bemühungen. Hier wird unterstellt, dass an Gemeinschaftsschulen das fachliche Niveau in Gefahr sei.  Für das staatliche Schulwesen gibt es allerdings dafür verbindliche Lehrplanvorgaben, die dem Unterricht zugrunde gelegt werden sollen und deren Realisierung durch vielfältige Formen der Leistungsermittlung überprüft werden. Das gilt auch für das längere gemeinsame Lernen an Gemeinschaftsschulen. Selbstverständlich erreichen die Lernenden dabei unterschiedliche Lernergebnisse, wie im gegliederten System auch. Das hat aber nichts mit dem fachlichen Niveau des Unterrichts zu tun, für das die Lehrer*innen verantwortlich sind. Da an Gemeinschaftsschulen auch Kinder auf gymnasialem Niveau lernen, darf angenommen werden, dass alle Lernenden von diesem hohen Anspruchsniveau profitieren. Dazu gibt es bereits empirische Belege.
BEHAUPTUNG 14: „Schwierige Schüler (lernunwillig, disziplinauffällig usw.) sind durch die Trennung im gegliederten System besser zu händeln.“
Diese Auffassung widerspricht den bisher bekannten Forschungsergebnissen zur Gewalt und zum Lernverhalten an Schulen, die deutlich belegen, dass lernunwillige und disziplinauffällige Schüler*innen von lerninteressierten und disziplinierten Schülern eher positiv beeinflusst und motiviert werden als von Gleichgesinnten. Im gegliederten Schulsystem bleiben die Problemschüler unter sich, was sich insbesondere in Hauptschulklassen und Realschulklassen nachteilig auf deren Persönlichkeitsentwicklung auswirkt. Beim schulischen Lernen geht es nicht nur um kognitive, fachliche Kompetenzen, sondern auch um die Formung und Entwicklung von Motivation, Emotionen, Einstellungen und anderen persönlichen Eigenschaften, wie  Vorurteile, Werte, Motive, Interessen, Ängste, Wahrnehmungs- und Verhaltenstendenzen, Erwartungen, Geschlechtsidentität, Selbstkonzept, Selbstwertgefühle usw. Gerade Problemschüler dürfen deshalb nicht unter sich bleiben. Sie brauchen hierbei das gemeinsame Lernen und soziale Handeln, den Austausch mit anderen Schülern ihrer Altersgruppe.